Medaillen gewinnen macht süchtig
Die Para Skilangläuferin und Para Biathletin Anja Wicker startet in ihren 15. Weltcup-Winter – und denkt noch nicht ans Aufhören. Zum verspäteten Saisonauftakt geht es für die 32-Jährige vom MTV Stuttgart und 17 weitere Teammitglieder, darunter fünf Guides, ab 24. Januar in Südtirol zur Sache.
Der Wettergott herrscht gnadenlos über dem französischen Bessans am 30. Januar des Jahres 2010. Er lässt es stürmen, er lässt es schneien, und unten, am Boden, schaut sich die 18-Jährige Anja Wicker um: voller Vorfreude, aber auch ein wenig verunsichert. Wie bitte, fragt sie sich vor ihrem ersten Rennen bei einem Para Biathlon-Weltcup, soll sie unter solchen Bedingungen vernünftig schießen?
Die Antwort lautet: gar nicht. Neun von 20 Schuss gehen daneben. Und sämtlichen Konkurrentinnen in der sitzenden Klasse geht es nicht viel besser. Selbst die Siegerin Olena Iurkovska aus der Ukraine sammelt vier Strafminuten ein.
„Es war grausam“, erinnert sich Anja Wicker heute. „Ich wusste danach: Da liegt viel Arbeit vor mir.“
Viel gearbeitet, viel trainiert, viel geschossen – und sehr häufig sehr gut – hat Anja Wicker seit diesem Tag. Führt man ihr vor Augen, dass sie kurz davor steht, in ihre 15. Saison zu starten, herrscht kurz Stille. So als müsse sie sich fragen, ob das wirklich stimmen kann. Es stimmt. „Verrückt“, nennt sie das.
„Für mich fühlt es sich so an, als wäre es erst die zweite oder dritte Saison.“
Seit August 2023 im Zoll Ski Team
Anja Wicker fühlt sich frisch. Sie fühlt sich hungrig. Dabei hat sie in ihrer Karriere längst alles gewonnen, was sie gewinnen kann: Medaillen aller Couleur bei Paralympics und Weltmeisterschaften, dreimal den Gesamtweltcup im Para Biathlon und im vergangenen Jahr den im Para Langlauf. Ihre Motivation, weiterzumachen, ist dennoch ungebrochen.
„Es macht süchtig, auf dem Podium zu stehen“, sagt sie. Und überhaupt: Der Sport hat ihr so viel gegeben, so viel gelehrt über Leistungsfähigkeit, Disziplin, Fairness, Selbstwertgefühl und Freundschaft, wie sie aufzählt. „Das merkst du erst über die Jahre hinweg, weil es automatisch und parallel zum Wettkampf passiert: Der Leistungssport ist eine Schule des Lebens.“
Seit Sommer 2023 darf sich Anja Wicker sogar Profisportlerin nennen. Seitdem ist sie offizielles Mitglied im deutschen Zoll Ski Team, gemeinsam mit so namhaften Wintersport-Kolleginnen wie beispielsweise Lena Dürr, Sofie Krehl oder Franziska Preuß – aus dem Para Bereich sind die Ski-alpin-Läuferinnen Anna-Lena Forster, Anna-Maria Rieder, Noemi Ristau und Andrea Rothfuss sowie Wickers Teamkamerad Marco Maier dabei. Nico Messinger und Leonie Walter stehen kurz davor, ebenfalls den Sprung zu schaffen.
„Ein Teil dieser auserlesenen Auswahl zu sein, ist schon cool“, sagt die Stuttgarterin. Es ist eine Würdigung ihrer langjährigen Arbeit.
Kein Wunder, dass Anja Wicker das noch eine Weile genießen und sich selbst beweisen will – ohne großen Druck, doch mit dem nötigen Ehrgeiz. Wie lange noch? Da denkt sie im paralympischen Rhythmus, zunächst also bis 2026, bis zu den Paralympics in Mailand und Cortina d‘Ampezzo. Zunächst. „So viel Spaß wie mir der Sport gerade macht, ist es wahrscheinlich, dass es danach weitergeht“, sagt Wicker, die auch dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört.
Fokus auf und am Schießstand
Nun steht erstmal der Saisonauftakt 2023/2024 in Südtirol an – erst vier Rennen in Toblach, direkt danach vier Rennen im Martelltal. Lange genug hat‘s gedauert, das Kribbeln ist in den vergangenen Wochen immer intensiver geworden. Normalerweise findet der erste Para Weltcup im Dezember statt, diesmal nicht. Dazu fiel der für Mitte Januar geplante Auftakt in Pokljuka (Slowenien) aus. „Brutal schade“, findet das Anja Wicker. „Wir trainieren das ganze Jahr dafür, dass wir Wettkämpfe haben.“
Sie selbst arbeitete zuletzt gemeinsam mit Nationalmannschaftskollegin Andrea Eskau und dem Para Biathlon-Bundestrainer Rolf Nuber im schneesicheren norditalienischen Livigno – bei knackigen Bedingungen von bis zu minus 18 Grad. „Wir mussten aufpassen, dass wir nicht am Schießstand festfrieren“, scherzt Wicker. Dort, am Schießstand, hielt sich das Trio besonders fokussiert auf, um sich auch im Hinblick auf die anstehenden Para Biathlon-Weltmeisterschaften im kanadischen Prince George (6. bis 10. März 2024) den Feinschliff zu holen.
Das Schießen, früher Wickers stärkste Waffe im Wettkampf, war in der jüngeren Vergangenheit etwas instabil, was sie auf höhere Intensitäten in der Loipe zurückführt. „Sie ist schneller geworden, kommt dadurch aber angestrengter an den Schießstand. Die Geschwindigkeit zu halten und dennoch die nötige Ruhe zu haben, daran arbeiten wir“, sagt der Bundestrainer Ralf Rombach. Anja Wicker selbst antwortet auf die Frage nach ihrem Gefühl selbstsicher und gleichzeitig gelassen. „Ich habe gut trainiert, was auch immer das jetzt bedeutet.“
Wettkampfsimulation an ungewohnter Stelle
Der Rest des deutschen Nationalkaders bereitete sich zuletzt am Bundesstützpunkt in Freiburg und im Nordic Center Notschrei vor und nahm – mangels eigener Weltcups – kurzerhand beim SBW-Cup und den Schwarzwald-Meisterschaften mit dem Nachwuchs im Langlauf und Biathlon ohne Behinderung teil. „Das war ein Novum und hat super funktioniert. Es könnte ein Modell für die Zukunft sein“, sagt Ralf Rombach.
„Fokussiert, aber entspannt“ – so schätzt der Bundestrainer seine sechs Athletinnen, sieben Athleten und fünf Guides vor dem ersten offiziellen Rennen der Saison ein. Dasselbe gilt für ihn selbst. Toblach und Martell sind Austragungsorte, die zumindest in den vergangenen 20 Jahren nicht im Wettkampfkalender im Para Skilanglauf und Para Biathlon standen, beide aber als traditionsreich gelten. „Es freut mich sehr, dass der FIS-Renndirektor Georg Zipfel hier neue Partner für uns erschlossen hat“, sagt Rombach.
Freuen darf sich auch Marco Maier – auf das Rennen am kommenden Samstag in seiner Spezialdisziplin Langlauf-Sprint im freien Stil, in der er 2023 Weltmeister wurde. Die Toblacher Strecke mit den langen Gleitpassagen und dem voraussichtlich harten Untergrund müssten ihm liegen. Maier ist einer von fünf deutschen Männern in der stehenden Konkurrenz. Bei den Frauen mit Sehbeeinträchtigung präsentierte sich bei den Testrennen vor allem Leonie Walter sehr stark. An ihrer Seite feiert Christian Krasman vom Ski-Club Schönwald (Schwarzwald) seine Weltcup-Premiere als Begleitläufer. Leonie Walters früherer Guide Pirmin Strecker ist jetzt mit Johanna Recktenwald unterwegs.
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Das deutsche Aufgebot für den Weltcup-Start (Name, Alter, Geburtsort, Verein):
Frauen mit Sehbeeinträchtigung: Linn Kazmaier (17 / Nürtingen / SZ Römerstein, Guide: Florian Baumann / 22 / Nürtingen / SZ Uhingen), Johanna Recktenwald (22 / St. Wendel / Biathlon-Team Saarland, Guide: Pirmin Strecker / 21 / Freiburg / SV Kirchzarten), Leonie Walter (20 / Freiburg / SC St. Peter, Guide: Christian Krasman / 22 / Stühlingen / Ski-Club Schönwald)
Frauen sitzend: Andrea Eskau (52 / Apolda / USC Magdeburg), Merle Menje (19 / Mainz / StTV Singen), Anja Wicker (32 / Stuttgart / MTV Stuttgart)
Männer mit Sehbeeinträchtigung: Nico Messinger (29 / Freiburg / Ring der Körperbehinderten Freiburg, Guide: Robin Wunderle / 25 / Freiburg / SC Todtnau), Lennart Volkert (20 / Berlin / PSV München, Guide: Nils Kolb / 21 / Freiburg / SV Kirchzarten)
Männer stehend: Alexander Ehler (54 / Leninogorsk (KAZ) / SV Kirchzarten), Steffen Lehmker (35 / Uelzen / WSV Clausthal-Zellerfeld), Marco Maier (24 / Oberstdorf / SV Kirchzarten), Sebastian Marburger (26 / Frankenberg (Eder) / SK Wunderthausen), Maximilian Weidner (34 / Passau / WSV-DJK Rastbüchl)
Der Zeitplan für Toblach:
Mittwoch, 24. Januar, Langlauf 10 km klassisch, Einzelstart
Donnerstag, 25. Januar: Langlauf 10 km klassisch, Massenstart
Samstag, 27. Januar: Langlauf-Sprint, 0,8 km für sitzende Klasse, 1,2 km für stehende Klassen im freien Stil
Sonntag, 28. Januar: Langlauf 5 km für sitzende Klasse, 10 km für stehende Klassen im freien Stil, Einzelstart
Der Zeitplan für Martell:
Mittwoch 31. Januar: Langlauf-Sprint, 0,8 km für sitzende Klasse, 1,2 km für stehende Klassen, klassisch
Donnerstag, 1. Februar: Biathlon Sprint (7,5 km)
Samstag, 3. Februar: Biathlon Verfolgungsrennen (2,4 km für sitzende Klasse, 3,6 km für stehende Klassen)
Sonntag, 4. Februar: Biathlon Einzelrennen (10 km)
Text: Benjamin Schieler, Nordic Paraski Team Deustchland